Auf der Suche nach der Kriminellen Organisation
Großprozess §278a in Österreich geht weiter – eine Zwischenbilanz

Hintergrund
Im Mai 2008 kam es nach jahrelangen Ermittlungen einer Sonderkommission der Polizei in ganz Österreich zu Hausdurchsuchungen und Festnahmen in der Tierschutz- und Tierrechtsszene, 10 Aktivist_innen wurden für über drei Monate in U-Haft genommen. Ermittelt wurde nach §278a, Gründung und Mitgliedschaft in einer kriminellen Organisation. Die Verdächtigten sollen direkte Aktionen gegen Tierausbeutungsunternehmen durchgeführt haben bzw. diese ideell unterstützt haben und Unternehmen durch Kampagnen „genötigt“ haben. Seit 2. März 2010 stehen 13 Personen wegen dieser Vorwürfe in Wiener Neustadt vor Gericht.
Bisher 51 Prozesstage – kaum Belastendes
Bis Anfang November 2010 wurde an insgesamt 51 Prozesstagen verhandelt, je Tag etwa sieben Stunden. Obwohl bis jetzt mit rund 90 Personen fast alle Zeug_innen der Anklage gehört wurden, gibt es kaum Belastendes gegen die einzelnen Angeklagten, auch das Konstrukt einer „kriminellen Organisation“ konnte nicht belegt werden. Einige Zeug_innen, etwa die Geschäftsführung der Fa. KLEIDER BAUER, die Gebrüder Graf, oder führende SOKO Beamt_innen wie Bettina Bogner müssen nochmals geladen werden, da ihre Einvernahmen noch nicht abgeschlossen sind. Auf gute zwei dutzend Beamt_innen, die der Staatsanwalt als Belastungszeug_innen nominiert hat, wird von Seiten des Gerichts und der Anklage verzichtet – die Verteidigung hat sich noch nicht dazu geäußert. Denkbar ist, dass auf die Ladung zumindest einiger Beamt_innen nicht verzichtet wird, da diese durch ihre Tätigkeit für die SOKO zur Klärung noch offener Fragen rund um die Ermittlungen beitragen könnten.

Zwischenergebnis

Penibel heraus gearbeitet wurden vom Staatsanwalt Handler und der Einzelrichterin Arleth bis jetzt nur zwei Tatsachen: erstens: die Angeklagten sind Tierschützer_innen/Tierrechtler_innen/Tierbefreiungsaktivist_innen, die jahrelang in verschiedenen Bereichen und Kampagnen aktiv waren, zweitens: es gab und gibt immer wieder Personen, die für den Schutz, die Rechte und die Befreiung der Tiere zu illegalisierten direkten Aktionen wie Tierbefreiungen oder Sachbeschädigungen greifen.

Kriminelle Organisation wird sich zurechtgebogen

Obwohl SOKO und Staatsanwalt immer wieder einen Zusammenhang zwischen den Personen, die sich an legalen und an illegalen Aktionen beteiligten, und der Existenz einer „kriminellen Organisation“ behauptet haben, konnten letztendlich vor Gericht keinerlei Beweise in diese Richtung präsentiert werden. All die Behauptungen, welche die umfassenden Ermittlungen, die Hausdurchsuchungen und die U-Haft gerechtfertigt haben, lösen sich Stück für Stück in Luft auf – trotzdem scheinen sowohl Staatsanwalt als auch Richterin geradezu wahnhaft von dem Konstrukt einer „kriminellen Organisation“ überzeugt zu sein. Das Bild, das sich in den ersten Prozesswochen bereits abgezeichnet hat (siehe TIERBEFREIUNG 67, Juni 2010), hat sich im weiteren Verlauf des Prozesses verfestigt. Ein ausführlicher Bericht über den Inhalt oder all die Absurditäten und Skandale der letzten Prozessmonate würde den Rahmen sprengen, daher wollen wir einen groben Überblick geben und einige besondere Highlights trotzdem erwähnen.

Parteiisches Gutachten


Ein Sachverständiger, der klären sollte ob es bei der Befreiung von Schweinen aus einer Massentierhaltung für die Schweine zu „unnötigen Qualen und Stress“ gekommen ist, musste zugeben, dass er sein Gutachten auf Basis der Aussagen des Schweinemästers und dessen Tierarztes erstattet hat. Sein Gutachten wurde daraufhin verworfen und ein neuer Gutachter bestellt. Hintergrund ist, dass die Schweinebefreiung als „Tierquälerei“ angeklagt ist, während jede Kritik an der Vernutzung von Tieren und an den Zuständen in sog. Nutztierhaltungen im Gerichtssaal permanent unterbunden wird.

Dilettantisches Gutachten

Ein weiteres Gutachten soll belegen, dass ein Angeklagter mehrere Bekenner_innenschreiben, Leser_innenbriefe und Artikel geschrieben hat. Gutachter als auch Gutachten werden durch mehrere Gegengutachten schwer kritisiert, methodische Mängel sind auch für Laien sichtbar. Der Gutachter behandelt etwa in seiner Analyse eines Bekenner_innenschreiben, das in einer Zeitung abgedruckt wurde, sowohl das eigentliche Schreiben, als auch den redaktionellen Begleittext als einen Gesamttext. Wenn bei seinen eigenen Analysen der Texte verschiedene Charakteristika hervortreten, erklärt dies der Gutachter, dass sich der Autor „eben verstellt“ hätte.

Große Funkzelle in Innenstadt schrumpft winzig zusammen

Einem Angeklagten wurde aufgrund einer Funkzellenauswertung seines Handys vorgeworfen, er wäre Monate vor einer Sachbeschädigung am Tatort gewesen. Bei genauem Nachfragen hat sich ergeben, dass sein Handy in derselben Funkzelle eingeloggt war, in der sich wahrscheinlich auch der Tatort befindet. Ob diese Funkzelle zum fraglichen Zeitpunkt auch den Tatort abgedeckt hat, lässt sich heute nicht mehr sagen, da sich aus technischen Gründen die genaue Größe der Funkzellen ändern kann. Wo genau in der Funkzelle sich der Angeklagte aufgehalten hat, ist ebenso nicht mehr rekonstruierbar – dabei handelt es sich um eine Funkzelle die ca. 400m Durchmesser hat, sich im Innenstadtbereich Wiens befindet und auch von mehreren Verkehrslinien (S-Bahnhof, U-Bahn, Straßenbahn) gekreuzt wird.

Wirre und falsche Angaben

Eine Kürschnerin berichtet von einem Brandanschlag: Zu Silvester haben Unbekannte einen Feuerwerkskörper in die Hecke ihres Einfamilienhauses geworfen die sich daraufhin entzündet hat. Wieso das ein „Brandanschlag“ durch mutmaßliche „Tierschützer“ sein soll und was für eine Verbindung zu den Angeklagten besteht, können weder SOKO noch Staatsanwalt noch Zeugin darlegen. Dabei ist diese Kürschnerin nicht das einzige „Opfer“, das wirre Angaben zu Schäden und Schadenssummen macht. Auch die Höhe des Schadens nach einem Buttersäureanschlag auf eine Filiale der Firma KLEIDER BAUER ist mehr als strittig. Klar ist nur, dass die Schadenssumme, die mit bis zu 500.000€ angegeben wurde, mehrmals nach unten korrigiert werden musste. Wie hoch der Schaden tatsächlich war, konnte auch vor Gericht nicht restlos geklärt werden.

Polizeipräsenz im Saal aufgestockt

Nachdem sowohl die Prozessführung als auch die Aussagen der Belastungszeug_innen immer wieder zu Reaktionen wie Gelächter oder Unmutsäußerungen des Publikums geführt haben, wurde die Polizeipräsenz im Gericht als auch im Gerichtssaal massiv verstärkt und Eintritt in den Saal ist nur noch gegen Ausweisleistung möglich.
Mehrfach wurde das Publikum als Ganzes, von der Richterin definierte Gruppen oder Einzelpersonen abgemahnt und auch des Saales verwiesen. Einen Angeklagten, der unaufgefordert das Wort ergriff, ließ die Richterin gar durch Beamt_innen aus dem Saal tragen, wobei dieser angab, verletzt worden zu sein.
Gewinne auf Nebenschauplätzen
Auch wenn die Richterin dem Eindruck erweckt, den Prozess auf Biegen und Brechen durchziehen zu wollen, gibt es zumindest auf juristischen Nebenfronten kleine Gewinne der Angeklagten. So berichtet etwa antirep2008.org: „ Die Kriminalpolizei bzw. die SOKO Bekleidung wurde jetzt zum zweiten mal wegen unrechtmäßiger Verweigerung der Akteneinsicht verurteilt. [...] Eine Richterin hat jetzt erneut den Kläger_innen des VGT recht gegeben: “Die pauschale unbegründete Verweigerung von Akteneinsicht hat XY in seinem Recht auf Akteneinsicht verletzt.” Konsequenzen hat dies allerdings keine: Weder dürfen die Beschuldigten jetzt Einsicht in den Polizeiakt nehmen, da die Ermittlungen abgeschlossen seien, noch hat die Kripo bzw. SOKO mit Konsequenzen zu rechnen.“

Mediales Interesse und Fortführung des Verfahrens

Auch das mediale Interesse an den Prozess ist nach wie vor überraschend groß, es gibt immer wieder Artikel und auch Reportagen, in denen auch die schwierige Situation der Angeklagten thematisiert wird. Ende November und Dezember sind noch 12 Prozesstage angesetzt, es ist davon aus zu gehen, dass dann die Einvernahme der Zeug_innen der Anklage abgeschlossen wird. Über Zulassung von Entlastungszeug_innen und Beweisanträge der Verteidigung hat die Richterin noch nicht entschieden. Wie viele Zeug_innen und Anträge die Richterin zulässt, wird auch maßgeblich die Dauer des Verfahrens bestimmen. Mit einem baldigen Ende des Verfahrens rechnet allerdings wohl noch keine_r.

Michael Niedermayer


Weitere Infos:
Verdeckte Ermittlerin aufgeflogen -
SOKO hatte den geglückten Einsatz eines verdeckten Ermittlers geleugnet


Aktuelle Infos und Hintergründe unter
http://antirep2008.tk/

Prozessverlauf auf Twitter
http://twitter.com/antirep2008

Die nächsten Prozesstermine
Januar 2011:
24, 25, 26
Februar 2011:
3, 4, 14, 17, 18, 21, 23, 24, 28
März 2011:
3, 10, 11, 17, 18, 21, 23, 24, 28, 29