Die Entfremdung der Lebewesen
Barbara Noske ist eine holländische Kultur- und Sozialanthropologin, Verhaltensforscherin und Feministin. Sie lehrte in Kanada und Australien an Universitäten, lebt aber mittlerweile wieder in den Niederlanden. In ihrem Buch „Beyond Boundaries. Humans and Animals“, das erstmals bereits 1989 erschien, hat sie die wissenschaftlich gesetzten Grenzen zwischen Menschen und anderen Tieren zu überwinden versucht. Ihre Kritik an sozial- und naturwissenschaftlichen Zugängen zur Betrachtung von Tieren, brachte sie zum Schluss, dass dadurch Menschen und Tiere grundsätzlich mit zweierlei Maß gemessen werden. Dadurch werden vorhandene Gemeinsamkeiten in den Hintergrund gedrängt und eine Verständigung über Speziesgrenzen hinaus wird fernab objektivierender Abwertung von Tieren verunmöglicht.
Deswegen zeigt Barbara Noske in ihrem, nun endlich auch auf Deutsch erschienenen Buch (Rezension siehe TB # 61), wie Zugänge zu Tieren auch auf gleichberechtigter Weise aussehen könnten. Dazu zieht sie das anthropologische Konzept der „teilnehmenden Beobachtung“ hinzu, das sie als eine „Übung in Empathie“ bezeichnet, „wobei man sich zur selben Zeit der Unmöglichkeit eines totalen Wissens und umfassenden Verständnisses bewusst“ sein müsse.
Mit der Tierbefreiung sprach Barbara Noske über soziale Bewegungen, Tierschutz und nicht-westliche Perspektiven auf Tiere.
Frage: Barbara, in deinem Buch veranschaulichst du sehr gut die Verbindungen, die es zwischen der männlichen Dominanz Frauen gegenüber und speziesistischer Unterdrückung gibt. Dennoch ist die Verbindung von Tierbefreiung und Feminismus für viele Feministinnen scheinbar nicht denkbar. Woher kommt das deiner Meinung nach?
Barbara: Dazu gibt es zwei Dinge zu sagen: Das erste ist, dass Frauen seit der Antike mit der Natur/Tieren gleichgesetzt werden, und Männern mit der Kultur. Im westlichen Denken wird Natur als etwas Niedereres wahrgenommen als Kultur, und so haben Feministinnen, wie etwa Simone de Beauvoir sich völlig verdreht um Frauen in der Philosophie von der Natur/Tieren abzugrenzen. Sie argumentieren, dass Frauen genauso menschlich und kulturell sind wie Männer was ja auch völlig richtig ist. Mit anderen Worten, die Frau-Tier-Gleichsetzung ist höchst politisch aufgeladen.
Eine Anmerkung der australischen Ökofeministin Val Plumwood dazu: „Es gibt eine Verbindung zwischen der Unterdrückung von Frauen und der Beherrschung der Natur. Beide werden als „das Andere“ behandelt, beide werden in den Hintergrund gedrängt. Doch nur weil diese beiden Mechanismen verbunden sind, heißt das noch lange noch, dass die Tierbefreiungsbewegung und Feminismus Hand in Hand gehen.“ Zusammenhängendes Leid führt nicht automatisch zur Solidarität.
Die zweite Sache, die mir aufgefallen ist, ist der Mangel an geschlechtersensiblen Zugängen der feministischen Bewegung in ihrer Betrachtung von Tieren. (Carol J. Adams ist dabei eine Ausnahme.) Die meisten Feministinnen vergessen, dass es auch unter Tieren zwei Geschlechter gibt ... Der Ökofeminismus hat meiner Meinung das Potential hier einen Weg zu finden.
Frage: In deinem Text „Two Movements and Human-Animal Continuity“ gehst du auf das Verhältnis der Tierrechtsbewegung zur Ökologiebewegung ein. Meiner Wahrnehmung zufolge sympathisieren sehr viele Tierrechtler_innen und Tierbefreier_innen mit der Ökologiebewegung, wobei es umgekehrt nicht unbedingt so ist.
Barbara: Ja, das stimmt. Aber viele TierechtsaktivistInnen sympathisieren auch nicht mit Umweltschutz. Besonders in Nordamerika scheinen TierrechtlerInnen die typischen Stadtmenschen zu sein. Für die Tierrechtsbewegung sind Tiere vor allem Individuen und ihr Interesse gilt zum großen Teil dem Schmerzempfinden, der Fähigkeit der Individuen, Schmerz, Angst oder Freude empfinden zu können etc.. Aber das ist auch klar, Nervensysteme findet man ja auch in Individuen und nicht in Spezies.
Die Ökobewegung hingegen legt ihr Hauptaugenmerk auf Spezies, Artenvielfalt und den Lebensraum und weniger auf Grausamkeiten gegen Einzelne. Diese Teilung ist für eine Menge von theoretischen Schwächen verantwortlich. Beide Bewegungen sollten ihre Perspektiven angemessen verbreitern.
Frage: Konkret werden so unterschiedliche Perspektiven deutlich, z.B. in Kontroversen über die Sinnhaftigkeit von Nerzfreilassungen, wie sie Aktivist_innen der Animal Liberation Front immer wieder durchführen. Während viele Tierbefreier_innen argumentieren, dass die Freiheit jedes Individuums unendlich viel bedeutet, gibt es andererseits Bedenken wegen der Artenvielfalt bzw. wegen des ökologischen Gleichgewichts in Gegenden, wo viele Nerze freigelassen wurden.
Barbara: Groß angelegte Nerzfreilassungen bringen tatsächlich die Umwelt und das ökologische Gleichgewicht in Gefahr. Solche Risiken sollten immer bedacht werden. Freilassungen können auch immer individuelles Leid bedeuten. Z.B. wird die Jagd (durch Nerze) ganz sicher Leid von einzelnen hervorrufen, familiäre Verbände durcheinander bringen etc.
Es sollte immer eine breitere Perspektive an Folgen berücksichtigt werden, das „Was würde das jetzt für wen bedeuten?“.
Frage: Seit fast zweihundert Jahren gibt es jetzt Tierschutzvereine, die mehr oder weniger akzeptiert sind. Dennoch hat sich in Europa in den 1960er Jahren die „Tierproduktion“ in Massentierhaltungen etablieren können. Hat der klassische Tierschutz versagt?
Barbara: Tierschutzorganisationen waren nicht nur unfähig diese Entwicklung zu stoppen, in vielen Fällen waren sie selbst daran sogar beteiligt. In Europa des 19. Jahrhunderts sind aus den industriellen Eliten die ersten Tierschutzvereine entstanden. Diese Industriellen genossen damals Steuersenkungen für ihre „großzügigen Wohltaten“.
Mir ist es wichtig zu betonen, dass industrielle Massentierhaltung als Ergebnis zweier Entwicklungen entstanden: Kapitalismus und die technische / wissenschaftliche Revolution. Auf viele Arten ist die Tierschutzbewegung mit dem Kapitalismus Hand in Hand gegangen.
Eine ganze andere Sache war die Antivivisektionsbewegung. Anhänger dieser Bewegung standen technologischen Fortschritten oft skeptisch gegenüber, auch vor dem Hintergrund seines naturzerstörerischen Potentials.
Frage: Worin siehst du Schnittpunkte zwischen Kapitalismus und Speziesismus? Ist ein Kapitalismus möglich, in dem Tiere befreit sind?
Barbara: Na ja, Kapitalismus bildet die Basis der Tierunterdrückung, nicht der Tierbefreiung. Nur soweit Kapitalismus den Individualismus betont und diesen auf tierliche Individuen ausweiten würde, nur dann könnte man von einem nur irgendwie positiven Effekt sprechen.
Aber allgemein gesehen hat der Kapitalismus natürlich einen negativen Effekt, wenn man sich die freie Marktwirtschaft, Profitmacherei, Globalisierung ansieht.
Frage: In deinem Text „Speziesismus, Anthropozentrismus und nichtwestliche Kulturen“ gehst du auf nichtwestliche Denkweisen über Tiere ein. So zum Beispiel auf Jäger- und Sammler-Gesellschaften, wie die australischen Aborigines, denen ja nachgesagt wird, dadurch ein völlig anderes Verhältnis zu Tieren zu haben. Oder die Nuer, die im Südsudan und Ägypten leben, und die Inuit. Können diese Kulturen beispielhaft für unseren Umgang mit Tieren sein?
Barbara: Sogar die Nuer und die Inuit sind sehr selektiv in ihrem Respekt Tieren gegenüber. Die Nuer beten Rinder an, aber sperren Wildtiere ein und behandeln sie schlecht. Auch die australischen Aborigines zeigen sehr große Unterschiede in ihren Einstellungen gegenüber Tieren, das geht von Respekt bis hin zu unglaublichen Grausamkeiten. Generell könnte man sagen, dass Gesellschaften, die auf Jagen und Sammeln basieren, sowie frühe Hirtenvölker eher die Spezies als die Individuen sehen, ebenso Totemismus. Und was Menschen über Tiere denken, spiegelt nicht immer das wider, was sie dann wirklich mit Tieren tun. Was auf alle Fälle nicht hilft, ist die Tatsache, dass Anthropolog_innen oft Misshandlungen von Tieren durch nichtwestliche Gesellschaften verteidigen.
Ich denke, was ganz dringend notwendig wäre, ist eine kulturübergreifende Disziplin, die sich mit Tierschutz beschäftigt. Vielleicht sollte es eine Disziplinen verbindende Wissenschaft sein, die Natur- und Sozial-/Kulturwissenschaften vereint.
Frage: Die Schlüsse, die du in deinem Buch ziehst, sind ja sehr fortschrittlich, was deine Sicht auf Tiere angeht. Wie bist du dazu gekommen und hast du einen Bezug zur Bewegung für die Rechte oder die Befreiung der Tiere?
Barbara: Nein, meine Arbeit hat nicht ihre Wurzeln in der Tierrechts- oder Tierbefreiungsbewegung, ich nutze eigentlich so gut wie nie diese Begriffe. Mein Denken entstand daraus, dass ich Fragen bezüglich Tieren stellte, die, wie ich gelernt hatte, eigentlich nur über Menschen gestellt werden. Und was war das Neue daran? Die Tatsache, dass ich das als Sozialwissenschaftlerin machte und nicht als Naturwissenschaftlerin, obwohl ich mittlerweile auch eine Philosophin geworden bin. Z.B. haben Tom Regan und ich überlappende Bereiche, die wir bearbeiten, aber ich sehe einige Probleme mit dem Rechts-Konzept. Es ist mir zu individualistisch und zu vermenschlicht. Wie auch immer, ich bin aber der Meinung, dass in praktischer Hinsicht Rechte für Tiere hilfreich sein können, um ihr Wohlergehen zu sichern.
In letzter Zeit hat sich mein Interesse verlagert in Richtung Mensch-Tier- und Tier-Mensch-Kontinuität und was das bedeutet. Unter anderem hat das Konsequenzen für meine Position zur Jäger-Beute-Beziehung, der Endlichkeit allen Lebens, das Eins-Sein mit natürlichen Prozessen etc.. Die Menschheit als Spezies unter anderen Spezies.
Frage: Was wären dann konkrete Auswirkungen eines anderen Denkens über Tiere? Was wäre anders?
Barbara: In meinem Artikel im Buch „The Great Ape Project“ habe ich ein Beispiel dafür gegeben: Eine anthropologische Herangehensweise, die teilnehmende Beobachtung, in einer Gesellschaft von Großen Menschenaffen (hypothetisch).
Frage: Die Erstveröffentlichung deines Buches, das auf Deutsch „Die Entfremdung der Lebewesen“ heißt, ist ja mittlerweile 20 Jahre her. Was hat sich dadurch bei dir verändert und womit beschäftigst du dich im Moment?
Barbara: Mein Thema ist so interdisziplinär, dass es mich immer daran gehindert hat einen guten Job zu bekommen. Doch abgesehen davon, lebe ich derzeit ohne Computer, Auto und Fernseher. Die aktuelle Tendenz, immer mehr Maschinen zwischen uns und die natürliche Realität zu setzen, fühlt sich an wie eine tiefgreifende Entfremdung von meinem Tier-Körper, der ich bin. Ich habe nicht einen Körper, sondern ich bin mein Körper.
Kürzlich habe ich angefangen, Natural Horsemanship zu lernen. Mein Pferd und ich kommunizieren mehr und mehr, indem wir unsere beiden Körper aufeinander abstimmen. Zum Glück kann sie gar nicht an der Leine gehen und schön langsam nähern wir uns der Situation, wo Halfter, Zügel und Sattel nicht mehr nötig sind. Mit anderen Worten, wir sind dabei die Technologie zu eliminieren, anstatt damit besser umgehen zu können.
Frage: Danke, Barbara, für das Interview.